Als im 18. Jahrhundert
im Zuge der Aufklärung immer mehr Landesfürsten die allgemeine
Schulpflicht einführten, war das Fach Rechnen eher von untergeordneter
Bedeutung und erst ab der 5. Klasse im Lehrplan vorgesehen.
Entsprechend auch in der Würzburger Schulordnung von 1774, in der es
unter § 17 heißt: „ Im fünften Schul-Jahre, nämlich vom 10ten bis zum
11ten ihres Alters, bekommen die Kinder die Rechen-Kunst, und die
Geographie wechselweise hinzu.“ |
Zahlenangaben
über Einkommen und Preise aus damaligen Zeiten ermöglichen heute
interessante Einblicke in die Lebensbedingungen früherer Zeiten, so am
nachfolgenden Beispiel, das die schwierigen Lebensumstände des „armen
Dorfschulmeisterleins“ in der Lehrerwohnung des Schulmuseums
veranschaulicht:
Der
Neuendorfer Lehrer Joseph Albert hatte 1911 als Lehrer, Kirchendiener,
Organist und Gemeindeschreiber bei freier Wohnung für die vierköpfige
Familie 4,64 Mark je Tag zur Verfügung.
In gleichen Jahr kostete in Partenstein bei Lohr a. Main 1 Liter Milch 0,20 Pf., 1 Pfund Butter 1,30 Mark,
1 Zentner Kartoffeln 4 Mark, ein Paar Stiefelsohlen 3,20 Mark und ein Anzug 66,- Mark |
Die Lohrer Schulanfängerin Gisela Belinski 1949, rechts daneben die „Russische Rechenmaschine“ |
Dass
das Fach Rechnen in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische
Zeitströmungen eingebunden wurde, wird vor allem in den Textaufgaben
des 20. Jahrhunderts deutlich, so etwa im 1. Weltkrieg: Was der
„Heldentod“ in Mark und Pfennig wert war, hatten die Volksschüler bei
der Schulentlassungsprüfung 1915 zu errechnen:
„Ein
Vater hat seine 3 Söhne im Felde bei der deutschen Kriegsversicherung
versichert und zwar den jüngsten mit 15 M, den 2ten mit 25 M und den
3ten mit 35 M. Die 3 Söhne fallen.
Was erhält der Vater, wenn der 26 4/5 fache Betrag der Einzahlung ausbezahlt wird?“
Dem
Vater wären der Rechnung zufolge für seine drei gefallenen Söhne 2010
Mark von der deutschen Kriegsversicherung ausbezahlt worden.
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„Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“, Bucher, Verlagsbuchhandlung, Würzburg, um 1940
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Innerer Einbanddeckel im Rechenbuch für die bayerischen Volksschulen, 1, Heft“,Bucher Verlagsbuchhandlung, Würzburg, um 1940 |
Im
Dritten Reich (1933 – 1945) bestimmte der NS- Lehrplan die Ziele des
Rechenunterrichts. Dort heißt es: „Unser Rechenunterricht stellt
nationalsozialistisches Gedankengut in die Welt der Zahlen hinein und
führt mit der Festigung der Einsicht und Überzeugung zu Haltung und
Gesinnung. (…) So hilft der Rechenunterricht verantwortungsbewußte und
politisch aufgeklärte Menschen erziehen, wirkt er auf Gemüt und Willen
und führt zu pflichtbewußter und volksverbundener Tat“. Was darunter zu
verstehen war, erkannten erst viele Zeitgenossen später. Dazu die
nachstehende Aufgabe im „Rechenbuch für Volksschulen Württemberg“
1943 unter der Abteilung „Verjudung Deutschlands“: „1933 zählte Berlin
4,25 Mill. Einwohner, darunter 160000 Juden. Diese spielten eine große
Rolle. Es waren unter den Ärzten 48 % Juden, unter den Rechtsanwälten
54 % Juden, unter den Theaterleitern 80 % Juden und unter den
Universitätslehrern 37,5 % Juden. Zeichne den jeweiligen Judenanteil in
Streifen von 100 mm ein!“
Diese Aufgabe verdeutlicht – wohl damals ungewollt - , wie wichtig unsere jüdischen Mitbürger in allen Bereichen waren. |
Selbstverständlich wurde Mathematik auch der Ideologie der DDR (1949 – 1989) angepasst.:
„Sicheres,
anwendungsbereites mathematisches Wissen und Können ist (in den Klassen
1 – 10) von grundlegender Bedeutung für die gesamte Entwicklung der
Schüler, für ihre spätere Tätigkeit in praktisch allen Berufen, für den
Ehrendienst in der Nationalen Volksarmee, für erfolgreiches Lernen in
anderen Fächern und in den weiterführenden Bildungseinrichtungen.“
(Aus: Allgemeinbildung und Lehrplanwerk, Volkseigener Verlag Berlin, 1987)
Bemerkenswerte Textaufgaben waren von den Schülern schon in den ersten Schuljahren zu lösen, so die nachfolgenden Aufgaben:
„Eine
Kanone der NVA wird von 5 Soldaten bedient. Bei einem Übungsschießen
sind 6 Kanonen eingesetzt. Wieviel Soldaten nehmen an der Schießübung
teil?“ - Aufgabe in einem 1989 herausgegebenen DDR-Rechenbuch für die
2. Klasse.
In
dem Rechenbuch für die 4. Klasse im Jahr 1975 wird die Aufgabe
gestellt: „Eine motorisierte Einheit der Nationalen Volksarmee legte
bei einer Übung in 6 Stunden 408 km zurück. Wieviel Kilometer fuhren
die Wagen durchschnittlich in einer Stunde?“ Derartige
Aufgabenstellungen sind in keinem vergleichbaren Grundschulbuch des
damaligen „imperialistischen und aggressiven BRD-Klassenfeindes“ zu
finden und auch nicht vorstellbar.
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Wie
sehr der Rechenunterricht von den politischen Vorgängen beeinflusst
wurde, zeigt auch die Reklame aus der Zeit des Kalten Krieges. In einem
Werbeblatt aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts für die
„Deutsche Rechenmaschine“ wird diese beworben als „ein Kampfgerät gegen
die „Russische Rechenmaschine“, die heute noch fast in jeder Schule in
irgend einem Winkel, meist verstaubt und gebrechlich, zu finden ist“.
Zusammenfassend heißt es in dem Faltblatt: „Mähdrescher statt
Dreschflegel; Auto statt Kutsche; Staubsauger statt Klopfer, Star.Mix
statt Quirl; Füllhalter statt Federkiel und noch hundert andere
Errungenschaften, aber die Russische Rechenmaschine steht in den
Schulen wie zu Urgroßvaterszeiten!
Als am 3. Oktober 1968 auf der Kultusministerkonferenz der BRD die Einführung der „Neuen Mathematik“ für alle Schulformen ab dem Schuljahr 1972/73 beschlossen wurde, wurde in der Grundschule die „Mengenlehre“ eingeführt, durch die neben der Vermittlung von Rechenfertigkeiten auch das logische Denken gefördert werden sollte. Diese neue Form des Mathematikunterrichtes wurde schnell von manchen Eltern als Form einer antiautoritären Erziehung abgelehnt, hinzukam, dass viele Eltern bei den Hausaufgaben nicht mehr helfen konnten, weil sie selbst die Aufgaben nicht lösen konnten. Es kam zu offenen Protesten, und 1984 verschwand die Mengenlehre aus den Richtlinien. Anhand vieler Beispiele ermöglicht die Ausstellung interessante Einblicke in die Geschichte des Rechenunterrichts und zeigt auch, wie Zahlen zur ideologischen Untermauerung missbraucht und den Zeitströmungen angepasst wurden. (Text: Eduard Stenger) |
Ergänzende Ausstellung zur Jahres-Sonderausstellung „Die Welt der Zahlen“ im Eingangsbereich des Lohrer Schulmuseums: Rechenbilderbücher und Rechenspiele Häusliche Rechenhilfen Mit dem wachsenden Bildungsanspruch des Bürgertums im 19. Jahrhundert begann auch die Herstellung von Lernmitteln für die häusliche Unterstützung bzw. „Nachhilfe“. Vor allem das Fach „Rechnen“ in Form von Rechenspielen und Rechenbilderbüchern war sehr beliebt. Reich bebildert und koloriert sollten sie das Interesse der Kinder wecken und gewissermaßen spielerisch zum Lernen anregen. „Lustiges Ein-Mal-Eins 4 x 10 = 40 - wers nicht glaubt, der irrt sich.“; Rechenspiel, um 1910 Für das häusliche Lernen in der Vorschulzeit bot sich vor allem das „1 x 1“ an. Beliebt waren z. B. Bildkarten mit thematischen Grundthemen aus der Märchenwelt oder der Kinderwelt. Auf den Bildkarten wurden meist sechs Kreise ausgespart, in denen die Lösungszahl einer 1 x 1 Aufgabe mit einem sich darauf reimenden Kurztext stand. Bei Gruppenspielen hatte jedes Kind eine oder mehrere Karten vor sich und reihum wurden die Plättchen von einem Stapel in der Mitte genommen. Passten diese zur Lösung, wurden sie eingefügt, wenn nicht, auf den Stapel zurückgelegt. Wer zuerst seine Bilder komplett hatte, war Sieger.
„Schneewittchen“,
aus: „MÄRCHEN
1 x 1; RUND UM DIE SCHÖNSTEN DEUTSCHEN MÄRCHEN“; Ähnlich gestaltet waren die Rechenbilderbücher, in denen das Einprägen und Behalten durch die Verbindung der Rechenaufgaben mit Bildern und Reimen gefördert werden sollte. (Text: Eduard Stenger, Kopien und Fotos: Bettina Merz) |
Das Lohrer Schulmuseum
im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist von Mittwoch bis Sonntag und an allen gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen können auch nach vorheriger Absprache außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen. (Kontakt: Eduard Stenger, Zum Sommerhof 20, 97816 Lohr a.Main; Tel. 09352/4960 oder 09359/317 oder 09352/848-465, e-Mail: eduard.stenger@gmx.net) |