Kein
anderes Tier hat über Jahrhunderte hinweg in der kulturellen Rezeption
vieler Völker eine derart große und zum Teil ambivalente Rolle gespielt
wie der Wolf. Am
bekanntesten ist wohl die Sage von Romulus und Remus, den späteren
Gründern der Stadt Rom (um das Jahr 753 vor Christus). Sie wurden der
Sage nach als Kinder in einem Korb ausgesetzt und von einer Wölfin
gesäugt, bis sie von einem Hirten entdeckt wurden.
In
der Slowakei sollen die Recken Waligor und Wyrwidub, sowie der Gründer
des altpersischen Reiches, Kyros II., von Wölfen großgezogen worden
sein.
In
den nordischen Mythologien kommt der Wolf sehr häufig vor. Zu den
ständigen Begleitern des Kriegsgottes Odin gehörten auch die Wölfe Geri
und Freki. Sie halfen bei der Jagd und galten als treu und
kampfeslustig.
Am
bekanntesten ist wohl
die Sage von Romulus und Remus, den späteren Gründern der Stadt Rom
(um das Jahr 753 vor Christus). Sie wurden der Sage nach als Kinder
in einem Korb ausgesetzt
und von einer Wölfin gesäugt, bis sie von
einem Hirten entdeckt wurden.
Darstellung
1652. (Kopie:
Eduard Stenger)
Der letzte bekannte Wolf der nordischen Mythologie ist der Mondhund Managarm, der sich von sterbenden Menschen ernährt.
In indischen Legenden wird der Wolf als hilfsbereites und liebes Tier beschrieben, ähnlich in türkischen Erzählungen.
Viele Völker Zentralasiens sahen im Wolf einen direkten Vorfahren und verehrten ihn als heiliges Tier.
Eine
besondere Variante des Wolfes war der Werwolf. Das Wort bedeutet in
etwa „Mann-Wolf“ und entstand vor mehr als 1000 Jahren durch heidnische
Rituale, in denen der Wolf als Beschützer gefeierte wurde.
Medizinmänner, Schamanen und Anführer wickelten sich häufig in
Wolfsfelle, und es hieß, sie seien von dem Tier besessen und bekämen
dadurch magische Kräfte.
Werwolf,
Holzschnitt
von Lucas Chranach 1512;
(Kopie:
Eduard Stenger)
Im
ausgehenden Mittelalter durchlief der Werwolf eine grundsätzliche
Veränderung. Er galt nun als blutrünstig und zerstörerisch, wurde mit
Hexen und dem Teufel in Verbindung gebracht. Der 1486 von dem
Dominikanermönch Heinrich Kramer verfasste "Hexenhammer" wurde zur
juristischen Grundlage der Hexen- und Werwolfprozesse, duch die im 16.
und 17. Jahrhundert tausende Menschen auf grausamste Weise zu Tode
kamen. Spätestens unter Folter gaben die Angeklagten die gewünschten
Geständnisse ab und starben dann auf dem Scheiterhaufen.
Bei
den Werwölfen handelte es sich um Menschen (meistens Männer), die am
Rand der dörflichen Gemeinschaft lebten, und die man gerne loswerden
wollte. Werwolfprozesse waren aber auch ein Weg, die christliche
Bedrohung durch den Teufel zu verdeutlichen, denn der Werwolf galt als
Gehilfe des Teufels. Hatte nicht Christus auch in der Bergpredigt
gewarnt: "Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in
Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe."
Und Paulus hatte in seiner Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus
geschrieben: "Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied reißende
Wölfe zu euch kommen werden, die die Herde nicht verschonen werden."
Ein
Bestseller wurde im Dritten Reich (1933-1945) der 1910 von Hermann
Löns geschriebene Roman "Der Wehrwolf" wegen seiner
völkisch-heidnischen Tendenz. Eine
neue Bedeutung erhielt der "Werwolf" gegen Ende des 2. Weltkriegs. Die
1944 von Heinrich Himmler angeordnete paramilitärische Organisation
"Werwolf" sollte als "Widerstandsbewegung in den deutschen
Grenzgebieten" durch einen Guerillakampf das Vorrücken der Alliierten
stören. Vor allem Hitlerjugend-Mitglieder wurden in zwei- bis
dreiwöchigen Kursen ab Herbst 1944 für die Sabotage ausgebildet.
Noch
kurz vor Kriegsende 1945 erklärte Joseph Goebbels den Kampf jedes
Deutschen bis zur "Selbstvernichtung" zur neuen Werwoflprämisse: "Hass
ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei. Der Werwolf hält selbst
Gericht und entscheidet über Leben und Tod."
Auf den Kriegsverlauf hatten diese Aktionen keinen Einfluss.
NS-Zeitung
„Front und
Heimat“, April
1945, Titelausschnitt;
(Kopie:
Eduard Stenger)
In den Märchen des christlich geprägten Abendlandes hatte kein Tier ein so schlechtes Image wie der Wolf.
Dieses
Bild des bösen und hinterhältigen Raubtieres wurde auch durch die
Gebrüder Grimm geprägt. Es waren vor allem die beiden Märchen
"Rotkäppchen" und "Der Wolf und die sieben Geißlein", die über
Generationen von Kindern die Angst vor dem Wolf verstärkten.
Noch
bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten großflächige
Bildserien von den beiden Märchen zu dem Wandbildbestand der meisten
Grundschulen. Auch in den Schulbüchern waren diese Märchen ein
beliebtes Thema.
"Jupiter
und Lycaon", Gemälds
von Jan Cossiers (1600–1671, Belgien)
Dazu
Ovids
Metamorphosen:
Der König Arkadiens, Lycaon, serviert Zeus bei dessen
Besuch
Menschenfleisch und wird von dem erzürnten Zeus in einen Wolf
verwandelt;
(Kopie:
Eduard Stenger)
Mit
Schulwandbildern, Auszügen aus Schul- und Kinderbüchern,
Bildprojektionen mit der Laterna magica usw. ermöglicht die
Sonderausstellung interressante und vielfältige Einblicke.
(Text: Eduard Stenger)
Das
Lohrer Schulmuseum im Ortsteil Lohr-Sendelbach ist unter Beachtung der
coronabedingten Vorgaben von Mittwoch bis Sonntag und an allen
gesetzlichen Feiertagen jeweils von 14 bis 16 Uhr geöffnet. Gruppen
können auch nach vorheriger telefonischer Absprache (Tel. 09352/4960
oder 09359/317) (unter Beachtung der coronabedingten Bestimmungen)
außerhalb der regulären Öffnungszeiten das Museum besuchen.
Internet: www.lohr.de/schulmuseum
E-Mail: eduard.stenger@gmx.net
Wolf und Rotkäppchen
Politsatiren und Stoff für Wahlkämpfe
(Text: Eduard Stenger)
"Rotkäppchen", Ausschnitt aus Meinholds Schulwandbild 1904;
aus dem Bildarchiv des Lohrer Schulmuseums; (Foto: Bettina Merz)
Das Märchen „Rotkäppchen“ bot wie kein anderes Märchen in den
letzten 200 Jahren eine ideale Plattform für hintergründig-satirenhafte
Anspielungen auf den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen
Zeitgeist. Bemerkenswert ist dabei die jeweilige Rolle des Wolfes.
Schon als die Brüder Grimm „Rotkäppchen“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts
in die literarische Form brachten, wie sie uns heute noch in den
Märchenbüchern begegnet, war dieses Märchen für die Zeitgenossen auch
ein Kommentar auf die damalige französische Invasion und Besatzung.
Rotkäppchen stellte das deutsche Volk dar, der Wolf die französischen
Besatzungstruppen und der Jäger wies auf die Dichter der
Befreiungskriege 1806-1815 hin.
1831 verglich Heinrich Heine das zaristische Russland mit einem Wolf,
der in großmütterlicher Verkleidung über die deutschen Rotkäppchen
herzufallen drohte,
und Wladimir Majakowski beschrieb 1917 in einem Gedicht das revolutionäre Russland als einen Wolf, der rote Barettchen frisst.
Karl Kraus sah 1933 die deutsche Sozialdemokratie in der Rolle eines
Mädchens, das ahnungslos Blumen im Wald sucht und nur mit viel Glück
vor dem faschistischen Wolf gerettet wird. ((Aus: Hans Ritz, Die
Geschichte vom Rotkäppchen, MURIVERLAG, Göttingen, 2000).
Auch die NS-Rassenideologen des Dritten Reichs fanden eine passende
Ausdeutung: Der böse Wolf symbolisierte die Juden, Rotkäppchen das
geknechtete deutsche Volk und im Jäger erkannten sie Hitler, der das
arme deutsche Volk befreite.
Eine als politscher Witz getarnte Form des Widerstands gegen den
toalitären NS-Staat war eine Rotkäppchen-Satire, die als Manuskript in
Umlauf kam und auf die Lebensumstände im Dritten Reich anspielte. Vor
allem der Ausruf des Jägers „Wie kann eine arische Großmutter so
rassefremd schnarchen?“ wurde zur geläufigen Redewendung und führte die
unsinnige Rassenlehre vor Augen. Als die Politsatire in der
Faschingsausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten 1937 erschien,
wurden die verantwortlichen Redakteure von der Gestapo (= Hitlers
geheime Staatspolizei) verhört und verwarnt, die Fachingsausgabe
eingezogen.
In ähnlicher Weise, auch als Manuskript, machte 30 Jahre später in der
DDR eine Rotkäppchen-Version mit zahlreichen hintergründigen
Anspielungen
auf das Leben im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat die Runde.
Als Wahlkampfhilfe in der BRD kam Rotkäppchen 1972 wieder „zu Ehren“.
Im Frühjahr des Jahres lancierte die baden-württembergische CDU zum
Landtagswahlkampf folgendes Inserat: „Rotkäppchen glaubte, die gute
Großmutter liegt im Bett. In Wirklichkeit war es der Wolf. Er sprang
heraus und fraß Rotkäppchen auf. Manche Bürger sind gutgläubig wie
Rotkäppchen. Sie glauben, sie wählen die alte SPD! In Wirklichkeit aber
wählen sie die Jusos. Die Radikalen bekommen die Mehrheit. Aber unser
Volk will keinen Linkskurs! Wir mißtrauen sozialistischen Träumereien.
Denn die sozialistische Wirklichkeit sieht anders aus. In der DDR, an
der Mauer, in Prag. Die SPD-Parteitage beweisen: Die Jusos sind die SPD
von morgen! Leider ist die SPD heute eine von links unterwanderte
Partei.“
Große Probleme bekam 1979 der Landwirt Ulrich Bornebusch aus der Nähe
der fränkischen Stadt Aurach, der einen Wolf mit den Zügen von Franz
Josef Strauß und davor ein kleines Mädchen an seine Scheune malen ließ
mit dem Text: Warum hast Du so ein großes Maul? Es folgte „eine
Justizkomödie, die zu den dramatischten Bearbeitungen des
jahrhundertealten Märchenstoffs gehört. Die Gerichte kamen ins
Rotieren, im Landtag wurden Anfragen eingebracht, die Presse nahm sich
des Falles an, Leserbriefe füllten die Spalten der Lokalzeitungen, die
Behörden gerieten in die Defensive, das Verfahren wurde eingestellt“.
(Aus: Hans Ritz, Die Geschichte vom Rotkäppchen, MURIVERLAG, Göttingen,
2000).
Dass auch noch heute bei politischen Auseinandersetzungen gelegentlich
das Rotkäppchen in Erscheinung tritt, zeigt der folgende Auszug
aus einer Wahlkampfrede Jürgen Trittins im Jahr 2002: „Die SPD erinnert
zur Zeit an ein ängstliches Rotkäppchen im Wald. Aber macht Euch keine
Sorgen – es gibt Rettung für Rotkäppchen: Sie ist grün, grün wie des
Jägers Jacke. Auf, auf ins Jagen – retten wir das Land vor dem
schwarzen Wolf.“
Wahlkämpfer sollten aber auch beachten, dass Rotkäppchen im Allgemeinen
von seinem Charakter her zwar als hübsch und liebenswert,
aber auch als leichtgläubig, naiv und mit einer Neigung zu Nonkonformismus und sexueller Ungebundenheit geschildert wird.
Bleibt noch zu erwähnen, dass im Märchen Rotkäppchens Vater nicht
genannt wird. Tiefenpsychologen haben aber längst herausgefunden, dass
der Vater „tatsächlich in zwei unterschiedlichen Formen zugegen ist –
einmal als Wolf, die Externalisation der Gefahren, von ödipalen
Gefühlen überwältigt zu werden, und zum anderen als Jäger in seiner
beschützenden und rettenden Funktion“. (Aus: Bruno Bettelheim, Kinder
brauchen Märchen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1980).
Übrigens: Die ursprüngliche Literaturgeschichte des Märchens
„Rotkäppchen“ begann, als der Franzose Charles Perrault 1697 in Paris
„Rotkäppchen“ unter dem Titel „Le petit chaperon rouge“ drucken ließ.
Perrault war eine Art Hofdichter, der seine Erzählungen adeligen Damen
widmete und jeder Geschichte eine lehrhafte Moral anhängte.