Schulwandwild (um 1972): Wohnzimmer aus der Zeit des Biedermeier (1815 bis 1848). (Foto Kleinfelder, Lohr a.Main)
Was
man heute so bildhaft mit „Cocooning“ oder „Homing“ bezeichnet,
ist der Trend, sich aus der Öffentlichkeit ins Privatleben
zurückzuziehen. Das Zuhause, in dem man es sich gemütlich macht, wird
zum Mittelpunkt des Lebens. Man igelt sich ein oder spinnt sich einen
Kokon als Schutz gegen die Außenwelt, die als bedrohlich oder
unveränderbar empfunden wird.Den Parteien, den
Politikern, der Regierung misstraut man, verunsichert durch nicht
eingehaltene Wahlversprechen, Spendenaffären, private Skandale,
fehlende Volksnähe oder ungelöste Probleme und daraus resultierende
Existenzängste.Die Unzufriedenheit mit politischen
Entscheidungen und ein Gefühl von Ohnmacht gegenüber Institutionen und
Regierung führt zu einer Ablehnung und einem Desinteresse, das sich
auch in mangelnder Wahlbeteiligung und abnehmenden Mitgliederzahlen
politischer Parteien deutlich zeigt.„Die Schule“, Farbkopie aus „Kinderbilder-Bilder zur Unterhaltung und mündlichen Belehrung, 1. Heft für Knaben“, um 1823
Diese
Politikmüdigkeit oder Politikverdrossenheit ist allerdings keine
moderne Erscheinung, sondern tauchte bereits vor fast 200 Jahren im
sog. Biedermeier auf, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen.Anfang
des 19. Jahrhunderts führte die französische Vormachtstellung unter
Napoleon in Europa zu Widerstand und in den Befreiungskriegen zwischen
1813 und 1815 entstand ein erstes Nationalgefühl in den verschiedenen
deutschen Kleinstaaten. Napoleon wurde 1815 bei Waterloo
entscheidend geschlagen, Europa sollte auf dem Wiener Kongress neu
geordnet werden. Die Restauration, also die Wiederherstellung der
Zustände vor Napoleon, konnte allerdings auf lange Sicht die
Verbreitung liberaler und demokratischer Ideen nicht verhindern, was
schließlich zur Revolution 1848/49 führte.„Die Kinderstube“, Farbkopie aus „Kinderbilder-Bilder zur Unterhaltung und mündlichen Belehrung, 1. Heft für Mädchen“, um 1823
Die
Zeit zwischen 1815 und 1848 war jedoch von der von oben verordneten
Ruhe geprägt, die durch entsprechende Gesetze scharf geregelt wurde. So
beschnitten die Karlsbader Beschlüsse von 1819 z.B. die öffentliche
schriftliche Meinungsfreiheit und setzten eine rigorose Pressezensur
durch. Selbst Turnplätze wurde geschlossen, die Universitäten überwacht
und liberal denkende Professoren wurden entlassen. Unter diesen
Repressionen zogen sich die Bürger zurück und suchten ihr Heil in ihrem
Zuhause oder in der Natur.Man traf sich zum gemeinsamen
Musizieren und die Hausmusik erlebte eine Blüte. Es wurden Stücke von
Franz Schubert oder Robert Schumann gespielt oder man vergnügte sich
bei öffentlichen Tanzveranstaltungen zu Walzerklängen von Johann
Strauss sen. und Joseph Lanner.„Die
Wasch- und Bügelstube“, Farbkopie aus „Kinderbilder-Bilder zur
Unterhaltung und mündlichen Belehrung, 1. Heft für Mädchen“, um 1823
Es
ist nicht verwunderlich, dass eben zu dieser Zeit bekannte Werke der
Romantik von Caspar David Friedrich oder Carl Spitzweg Ideale und
idyllische Landschaften aufzeigen, die wohl jeder schon einmal gesehen
hat.„Das
militairische Spiel“, Farbkopie aus „Kinderbilder-Bilder zur
Unterhaltung und mündlichen Belehrung, 1. Heft für Knaben“, um 1823
Die
Literatur des Biedermeier hatte zwei Hauptströmungen: Auf der einen
Seite wurde in Novellen, Reisebeschreibungen oder Lustspielen heitere
Beschaulichkeit, Idylle, Unterhaltung, ja auch Trivialliteratur
geboten, auf der anderen Seite jedoch rüttelten Autoren mit liberalen
und rebellischen Gedanken die politisch resignierten Bürger auf und
bereiteten den Boden für die Revolution 1848. „Woyzek“ oder „Dantons
Tod“ von Georg Büchner sind die wohl bekanntesten Beispiele des sog.
Vormärz, aber auch Autoren wie August Heinrich Hoffmann von
Fallersleben oder Bettina von Arnim zählen dazu. Weitere literarische
Vertreter des Biedermeier sind Annette von Droste-Hülshoff, Heinrich
Clauren, Wilhelm Hauff oder Franz Grillparzer.Ein Gedicht von 1847 des Dichters Ludwig Pfau drückt das Zeitgefühl treffend aus:
Schau, dort
spaziert Herr Biedermeier
und seine
Frau, den Sohn am Arm;
sein Tritt ist
sachte wie auf Eier,
sein
Wahlspruch: Weder kalt noch warm.Als Spießigkeit,
Biederkeit und Kleingeist karikiert, hat die Zeit des Biedermeier
jedoch einen ganz eigenen Stil der Einrichtung, Mode, Musik – vor allem
Hausmusik-, Kunst und Literatur hervorgebracht.Farbkopie aus „DIE TURMUHR eine RECHEN-FIBEL für kleine Kinder“, 1841
Diese
Schönheit im Kleinen zeigt die neue Sonderausstellung anhand von
Kinderbüchern, Spielen, Fibeln, Poesiealben, Schreibsets aus dieser
Zeit sowie mit weiterem Anschauungsmaterial.(Text: Bettina Merz, Mitarbeiterin im Lohrer Schulmuseum)